Soweit wir es zurückverfolgen können, haben Menschen, wenn sie über Spirituelles sprachen, einen Ausdruck verwendet, der einfach „Lebensatem“ bedeutet. Im Lateinischen wie im Griechischen und Hebräischen bedeutet Geist Atem. Geist ist die echte Lebendigkeit des Lebens wie wir wissen. Aber was bedeutet dies? Wir wissen, dass diese Lebendigkeit mehr ist als nur körperliche und geistige Fähigkeiten. Denkt an die Bemerkung, welche wir oft über die Vitalität von jemandem hören: „Er/sie scheint so lebendig zu sein!“ Hier ist mehr im Spiel als nur ein etwas gleichmässigerer Puls oder ein höherer IQ.

His Holiness Dalai Lama

In den grossen spirituellen Traditionen ist „Lebendigkeit“oft mit „Achtsamkeit“ (mindfulness) austauschbar. Der englische Begriff (mindfulness) betont nicht so sehr den Verstand (mind) als vielmehr die Fülle (fulness). Lebendigkeit ist nicht nur eine Fülle des Verstandes, sondern auch des Leibes und des Geistes. Diese Vorstellung unterscheidet sich völlig von der verbreiteten Auslegung von Achtsamkeit, welche häufig einen Bruch macht– oder aufrechterhaltet – zwischen Leib und Geist. Echte Spiritualität, echte Lebendigkeit ist im Gegenteil tief in unserem Leib verwurzelt, wird von den Religionen oft ausser Acht gelassen oder ganz verneint, ist aber in tief spirituellen Menschen leicht zu erkennen. Denkt an den Dalai Lama, seine Gesten und sein dröhnendes Lachen. Die Bezeichnung Achtsamkeit scheint zu beschränkt, um ihn zu beschreiben, aber welches Wort sollten wir gebrauchen? Wenn in einer Sprache ein Wort fehlt, fehlt oft eine Einsicht, in diesem Fall die Einsicht, dass die volle Lebendigkeit aus Achtsamkeit und Leibhaftigkeit besteht und, dass diese volle Lebendigkeit das Herzstück unserer Spiritualität ist.

Die Poesie liefert uns Beispiele von dieser aussergewöhnlichen Lebendigkeit, die wir in einen Zusammenhang mit unserem Alltag bringen können. Ein Gedicht von William Butler Yeats preist einen solchen Augenblick. Es bringt eine im Wesentlichen religiöse Erfahrung in einen Zusammenhang, wo wir ihn nicht erwarten würden. Oft sind wir in Kirchen, Moscheen und Tempel enttäuscht, weil wir denken, dass wir hier eine solche Erfahrung „haben sollten“. Aber Augenblicke der Lebendigkeit kommen nicht auf Bestellung. Wenn sie kommen, sind wir, wie C.S. Lewis es beschreibt, „überrascht von Freude“. So auch Yeats in seinem Gedicht „Vacillation, IV“.

Es beginnt in einem für grosse Lebendigkeit ungewöhnlichen Alter – „Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s“ – und in einer nicht sehr vielversprechenden Umgebung. Yeats sagt:

Mein fünfzigstes Jahr, gekommen und gegangen war’s,
ich sass, ein Einzelgänger,
in einem überfüllten Londoner Geschäft,
ein offenes Buch und eine leere Tasse
auf der marmornen Tischplatte.

Wir alle kennen dieses Gefühl des Alleinseins inmitten einer Menschenmenge, gerade ihretwegen umso einsamer. Das Buch liegt offen da. Er scheint in der Hälfte das Interesse daran verloren zu haben. Die Tasse ist leer und so anscheinend auch seine Gedanken. Die Oberfläche des Tisches aus kaltem Stein drückt perfekt seinen Mangel an jeglichen Gefühlen in diesem Augenblick aus. Dieser Mann sieht nicht, was um ihn herum vorgeht. Er starrt geistesabwesend vor sich hin.

Aber unerwartet geschieht etwas und bemächtigt sich seiner, ein wundersamer Kontrast zur Leere, mit der das Gedicht begonnen hat:

Während ich Geschäft und Strasse anstarrte,
mein Leib plötzlich erstrahlte…

Bemerkt, dass Yeats sagt, er erfahre dieses plötzliche Erwachen, seine Lebendigkeit, in seinem Leib. Er sagt nichts über seinen Verstand oder seine Gedanken. In diesem Augenblick denkt er nicht. Dieses Bewusstsein, das den Leib mit Lebendigkeit erstrahlen lässt, übersteigt das Denken weit.

…Und für zwanzig Minuten, mehr oder weniger,
schien meine Glückseligkeit so herrlich,

dass ich gesegnet war und segnen konnte.

Diese „mehr oder weniger“ zwanzig Minuten weisen darauf hin, dass dies ein zeitloser Augenblick war. Aber eine augenzwinkernd gemeinte Eigenschaft zu diesem „mehr oder weniger“ dringt ebenfalls durch. Die Erfahrung ist zu überwältigend; der Dichter muss sich mit diesem umgangssprachlichen Ausdruck selbst distanzieren. Während er lediglich von seiner „Glückseligkeit“ spricht, bricht die religiöse Wirklichkeit mit dem Wort „gesegnet“ durch. Wie in echten spirituellen Erfahrungen liegt der Beweis in der Tatsache, dass er seine gesegnete Lebendigkeit anderen weitergeben kann. Das ist es, was Religion (lateinisch re-ligio) ist: wörtlich „wieder binden“ von Bändern, die zerrissen worden waren, Bande, die uns mit allen anderen Geschöpfen verbinden, mit unserem wahren Selbst und mit dem Göttlichen. Wir sind nicht länger allein und einsam: wir gehören zusammen.

Thomas Merton

Echte Lebendigkeit ist der Ausdruck einer tiefen Zugehörigkeit. Unser Leib „erstrahlt“ vielleicht nicht, aber in gewissen glückseligen Augenblicken wissen wir, mindestens für  den Bruchteil einer Sekunde, dass wir zusammengehören. Wir wissen es „bis in unsere Knochen“. Es ist die höchste Art von Wissen, das nicht auf Gedanken beschränkt ist, noch auf Gefühle, noch auf irgendeine andere Art von Wissen. Dies ist nicht das Wissen, auf das wir uns in alltäglichen Gesprächen beziehen. Es ist nicht das, was der konfuzianische Weise Hui Tzu, der sehr um Wortgenauigkeit bemüht war, unter Wissen verstand. Und dies führt zu einem köstlichen Wortwechsel zwischen ihm und dem grossen taoistischen Meister Chuang Tzu. Es handelt sich um eine Episode, die Thomas Merton entzückte und die er in seinem Buch „The Way of Chuang Tzu“ mit dem Titel „The Joy of Fishes“ (Die Freude der Fische) übersetzte:

Chuang Tzu und Hui Tzu
gingen über den Fluss Hao
auf einem Damm.

Chuang sagte:
„Schau, wie frei
die Fische springen und herumschnellen:
Das ist ihre Glückseligkeit.“

Hui entgegnete:
„Da du kein Fisch bist,
wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?“

Chuang sagte:
„Da du nicht mich bist,
wie kannst du bloss wissen,
dass ich nicht weiss,
Fische glücklich macht?“

Hui erwiderte:
„Wenn ich, der ich nicht du bin,
nicht wissen kann, was du weisst,
folgt daraus, dass du,
der du kein Fisch bist,
nicht wissen kannst, was sie wissen.“

Chuang sagte:
„Warte einen Augenblick!
Lass uns zurückkommen
auf die ursprüngliche Frage.
Was du mich gefragt hast, war:
Wie kannst du wissen,
was Fische glücklich macht?
Von deinen Fragen her
scheinst du offensichtlich zu wissen, dass ich weiss,
was Fische glücklich macht.

Und dann folgt die entscheidende Aussage, eine Erklärung von grösster Bedeutung:

Ich erkenne die Freude der Fische
im Fluss
durch meine eigene Freude,
wenn ich demselben Fluss entlang gehe.“

Gibt es noch einen anderen Weg, dies zu wissen? Offensichtlich nicht! Aber überlegt, was dies bedeutet.

Unser beglückendes Wissen kommt nicht vom Denken, sondern vom Bewusstsein einer gemeinsamen Lebendigkeit, in diesem Fall zwischen Hui Tzu und dem Fisch.

Taoism

Die Taoisten nannten diese gemeinsame Lebendigkeit das „Tao“. Dieses Wort bedeutete einfach „Weg“ oder „Pfad“. Doch die Taoisten erweiterten seine Bedeutung. Für diese Gegebenheit benötigen wir einen Ausdruck und der beste, den unsere Sprache anbieten kann, ist „gesunder Menschenverstand“. Indem wir diese Art von Wissen gesunden Menschenverstand nennen, weiten wir die Definition dieses Begriffs, wie wir ihn normalerweise kennen, aus, doch wenn wir ihn mit neuen Ohren hören, ist es ein aussergewöhnlich guter Begriff. Oft wird gesunder Menschenverstand gebraucht, um herkömmliche Annahmen zu bezeichnen, das genaue Gegenteil von voller Lebendigkeit. Aber der gesunde Menschenverstand, von dem wir jetzt sprechen, ist so dynamisch, so lebendig, so weit, dass es allem, was wir tun und sind, eine neue Farbe, eine neue Note gibt. Es ist ein sinnliches Wissen und es entspringt dem, was wir mit der ganzen Schöpfung gemein haben. Unseren Erfahrungen wohnt die Erkenntnis inne, dass wir nicht getrennte Leiber sind, sondern dass in diesem Universum alles zusammenhängt, alles ist Teil von allem. Aus diesem Bewusstsein entspringt das einzige Wissen, das Sinn macht. Dieses Wissen geht so tief, dass es in unseren Sinnen verkörpert ist und keine Grenzen hat. Es ist dem ganzen Universum gemeinsam. Wir müssen uns nur anschliessen.

Ist es nicht das, was Chuang Tzu sagt? Durch unsere eigene Glückseligkeit erkennen wir die Glückseligkeit der Fische und die Glückseligkeit von allem, was es in der Welt gibt. In diesem glückseligen Augenblick haben wir ein spirituelles – voll lebendiges – Wissen im Herzen der Welt erreicht.

Wenn wir gesunden Menschenverstand einüben, wird er zu einer Grundlage für unser Wissen, einer Grundlage für unser Tun. Im gesunden Menschenverstand sind Tun und Denken eng verbunden. So ist gesunder Menschenverstand mehr als Denken. Er ist eine vibrierende Lebendigkeit zur Welt, in der Welt und für die Welt. Er ist ein Wissen durch Zugehörigkeit. Und er wird zu einer Grundlage für unser Tun und Handeln. Im Geist zu handeln, heisst so zu handeln wie Menschen, die zusammengehören. Wir gehören alle zusammen in diesem „Erd-Haushalt“ wie Gary Snider es so schön nennt, und ein spirituelles Leben zu leben, bedeutet so zu handeln wie bei sich zuhause, wo man zusammengehört. Das und nur das ist moralisches Tun. Alle Moral, welche je in irgendeiner Traditionen in der Welt entstand, kann auf das Prinzip reduziert werden, so zu handeln wie man denen gegenüber handelt, zu denen man gehört.

Oft wird gesagt, dass sich die Vorstellungen, was Moral ist oder nicht, von Gesellschaft zu Gesellschaft total unterscheiden. Was in einer als moralisch angesehen wird, sogar als tugendhaft, wird in einer anderen als unmoralisch gebrandmarkt. Aber dies sind nur oberflächliche Widersprüche. Im Grunde sagt jedes moralische Gesetz, das je geäussert wurde, in seiner Tiefe: „So handelt man denen gegenüber, zu denen man gehört“. Die Unterschiede werden durch die Grenze bestimmt, die wir ziehen zwischen denen, die zusammengehören und denen, die wir als Aussenseiter betrachten.

Gesunder Menschenverstand – gerade weil er aus der Erkenntnis entsteht, dass wir unsere tiefste Identität gemeinsam haben – zieht keine Grenzen. Wenn wir uns in gesundem Menschenverstand üben, üben wir eine Moral, die jeden einschliesst. Wir benehmen uns gegenüber allen so wie man sich benimmt, wenn man zusammengehört. Als ich jung war, gab es in unserer Welt noch Raum für verschiedene Anschauungen von Moral. Innerhalb meiner Lebensspanne haben wir eine Schwelle überschritten: Von jetzt an ist es einfach unmoralisch, eine Grenze zu ziehen und jemanden auszuschliessen. Selbst Pflanzen und Tiere müssen einbezogen sein. Zu diesem Bewusstsein, das dem gesunden Menschenverstand entspringt, wurden wir aufgeweckt durch die Leiden zweier Weltkriege und deren Folgekriege, ebenso wie durch den Verlust von ganzen Pflanzen- und Tierarten, die wesentliche Teile der voneinander abhängigen Ökologie unserer Erde bilden. Wir haben unsere Erde aus dem Weltall betrachtet, und diese Vision von unserer Erde als ein ungeteiltes blaues und grünes Ganzes erinnert uns daran, dass wir eine einzige Erden-Familie sind. Diese globale, alles einschliessende Gemeinschaft ist das, was Jesus mit dem „Reich Gottes“ meinte. Indem er Gemeinschaft allumfassend machte, löste er ein Erdbeben aus, das in unserer Welt immer noch nachhallt. Das Epizentrum dieses Erdbebens ist der Begriff „Autorität“.

Gesunder Menschenverstand ist – richtig verstanden – autoritativ (Duden: „sich auf echte Autorität stützend“ Anm. Übersetzerin). Tatsächlich ist es die höchste Autorität. Autorität, die so wesentlich ist für Spiritualität, ist einer von diesen Begriffen, den wir klären müssen. Eines von unseren Problemen heute ist, dass dieser Begriff so oft missverstanden wird. Selbst wenn wir in einem Lexikon nachschlagen, finden wir für „Autorität“ gewöhnlich als ersten Begriff „die Macht zu befehlen“. Dies ist jedoch nicht seine ursprüngliche Bedeutung. Die ursprüngliche Bedeutung von Autorität ist „eine feste Grundlage für unser Wissen und Handeln“. In dieser Art brauchen wir den Ausdruck noch immer häufig. Wenn wir forschen wollen, nehmen wir ein autoritatives Buch zur Hand. Wenn wir gesundheitliche Probleme haben, gehen wir zu einem Arzt, der als Autorität bekannt ist. Wir suchen „eine feste Grundlage für unser Wissen und Handeln“.

Und wo legte Jesus diesen festen Grund? In die in Stein gemeisselten Gebote Gottes? In die religiösen Führer seiner Zeit? In sich und seine eigenen Lehren? Es überrascht vielleicht, aber nichts davon trifft zu. Jesus legte die höchste Autorität in die Herzen seiner Hörer, nicht als privaten Besitz, sondern als Teilnahme am gesunden Menschenverstand. Deshalb ist es typisch für ihn, durch Gleichnisse zu lehren.

Sein typisches Gleichnis beginnt mit einer Frage: „Wer von euch weiss dies nicht schon?“ Die naheliegende Antwort ist: „Jeder weiss es. Das sagt der gesunde Menschenverstand.“ Und so nimmt Jesus uns, seine Zuhörer, auf den Arm: „Wenn ihr es so gut wisst, weshalb tut ihr es nicht? Ihr wisst zum Beispiel, mit welcher Liebe ihr eure Kinder behandelt. Sollte Gottes Liebe weniger inbrünstig und unerschütterlich sein? Liebt ihr ein Kind mehr als ein anderes? Weshalb sollte Gott? Fliesst eure Liebe nicht zu demjenigen, der in Not ist? Gottes Liebe ebenso!“ Durch Erzählen und Wiedererzählen werden die Gleichnisse zu Allegorien und moralischen Geschichten, aber ursprünglich waren es Scherze, die sich darum drehten, dass wir gesunden Menschenverstand haben, aber ihn nicht gebrauchen.

Durch diese Art des Lehrens schuf Jesus Christus eine Autoritätskrise. Die Leute sagten: „Dieser Mann spricht mit Autorität, nicht wie unsere Autoritäten.“ Was meinten sie damit? Wann sagen wir, dass jemand mit Autorität spricht? Wenn Lehrer sich selbst aufs Podest stellen? Nein. Vielmehr wenn sie uns helfen, auf eigenen Füssen zu stehen. Solche Lehrer bringen uns dazu, auf die autoritative Stimme in unserem Herzen zu horchen und stärken uns darin, die Stimme des gesunden Menschenverstandes zu erkennen und ihr zu folgen. Doch dies führt zu Schwierigkeiten mit autoritären Personen  – und es brachte Jesus in Schwierigkeiten. Selbst heute – denkt an Basisgemeinden in Lateinamerika, die den Armen in Zeiten des politischen Umsturzes dienten, was oft zu Verfolgung und sogar Märtyrertum führte.

Jesus lehrte, dass der einzig legitime Gebrauch von Autorität der ist, diejenigen aufzubauen, die unter Autorität stehen. „Wer von euch gross sein will, soll euer Diener sein“ (Mk 10,43). Diejenigen, die eine echte Autorität sind, haben es nicht nötig, jeden niederzudrücken, um sich selbst oben zu halten. Aber so funktionierten die Autoritäten zu Jesu Zeiten – und tun es zu allen Zeiten. Folglich mussten sowohl die religiösen wie politischen Autoritäten Jesus bestrafen. Jeder, der Menschen hilft auf eigenen Füssen zu stehen, ist gefährlich für solche Autoritäten. Deshalb räumten sie ihn aus dem Weg.

Doch diese Art Geist, weil es der höchste Geist ist, konnte nicht getötet werden und lebt heute noch weiter. Er ist im Herzen jener lebendig, die im Geiste des gesunden Menschenverstandes leben.


Der vorliegende Text „Spirituality as Common Sense“ erschien 2012 im Buch „Common Sense Spirituality“  (Verlag The Crossroad Publishing Company), das verschiedene Texte von David Steindl-Rast zu diesem Thema enthält. ©2008 David Steindl-Rast. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eve Landis.

Ein weiteres empfehlenswertes Buch von David Steindl-Rast zu diesem Thema auf Deutsch ist: „Common Sense. Die Weisheit, die alle verbindet. Sprichwörter der Völker“ (Verlag Claudius).