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Gratefulness
Drei Schritte im Prozess „ein Leben der Dankbarkeit leben“
Wenn ich abends innehalte, um auf meinen Tag zurückzublicken, scheint mir dies manchmal, ich muss es gestehen, wie der erste Halt in einem Schnellzug zu sein. Dann schaue ich zurück und stelle mit Bedauern fest, wie viel ich versäumte.
Ein Akt der Dankbarkeit ist ein lebendiges Ganzes. Seinem organischen Fluss ein mentales Gitter wie eine „Schrittfolge“ überzustülpen, wird immer etwas willkürlich sein. Und doch kann ein solcher Entwurf um der Übung willen hilfreich sein.
In jedem Prozess können wir einen Anfang, eine Mitte und ein Ende unterscheiden. Dieses Drei-Grundschritte-Gitter können wir zum Üben von Dankbarkeit benützen. Was passiert am Anfang, in der Mitte und am Ende, wenn wir Dankbarkeit erfahren? Was misslingt, wenn wir nicht dankbar sind?
Bevor ich zu Bett gehe, schaue ich auf meinen Tag zurück und frage mich: habe ich innegehalten und mir erlaubt, überrascht zu sein? Oder trottelte ich einfach weiter?
Wach, bewusst und achtsam zu sein, ist der Anfang, die Mitte und das Ende der Dankbarkeit. Das gibt uns den Schlüssel zu dem, was die drei
Grundschritte zum Üben der Dankbarkeit sein müssen.
Zuallererst: wenn wir nicht aufwachen, werden wir nie beginnen dankbar zu sein. Wozu aufwachen? Für die Überraschung. So lange uns nichts überrascht, gehen wir wie benommen durchs Leben. Wir müssen üben, für die Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, diese einfache Frage wie eine Art Wecker zu gebrauchen: „Ist dies nicht überraschend?“. „Ja, wirklich!“ wird die richtige Antwort lauten, unabhängig davon, wann und wo und unter welchen Umständen wir uns diese Frage stellen. Ist es nicht eigentlich überraschend, dass es überhaupt etwas gibt statt nichts? Frage dich mindestens zweimal im Tag: „Ist dies nicht überraschend?“ und du wirst bald wacher sein für diese Welt voller Überraschungen, in der wir leben.
Überraschung kann einen Schock auslösen, der gross genug ist, um uns aufzuwecken und aufzuhören, alles als selbstverständlich zu nehmen. Vielleicht mögen wir diese Überraschung überhaupt nicht. „Wie kann ich für so etwas dankbar sein?“ heulen wir vielleicht mitten in einer Katastrophe. Und weshalb? Weil wir uns des wahren Geschenks dieser speziellen Situation nicht bewusst sind: die Gelegenheit.
Eine einfache Frage hilft mir, den zweiten Schritt der Dankbarkeit zu üben: „Was ist hier meine Gelegenheit?“ Du wirst herausfinden, dass die Gelegenheit, welche ein gegebener Augenblick anbietet, meistens eine Gelegenheit ist sich zu freuen – über Klänge, Gerüche, Texturen, Farben, und mit immer tieferer Freude über Freundschaft, Freundlichkeit, Geduld, Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und alle diese Geschenke, welche unseren Herzensgrund wie ein lauer Frühlingsregen weich machen. Je mehr wir das Bewusstsein üben, sich über diese unzähligen Gelegenheiten einfach zu freuen, desto leichter wird es, schwierige oder schmerzvolle Erfahrungen als Gelegenheiten, als Geschenke zu erkennen.
Während jedoch das Bewusstsein der Gelegenheiten, welche den Lebensereignissen und –umständen innewohnt, der Kern der Dankbarkeit ist, ist Bewusstsein allein nicht genug. Was nützt es, sich einer Gelegenheit bewusst zu sein, wenn wir davon nicht Gebrauch machen? Wie dankbar wir sind, zeigt sich durch die Achtsamkeit, mit der wir auf diese Gelegenheit antworten.
Wenn wir einmal geübt sind, für Überraschung wach zu sein und bewusst zu sein für die Gelegenheit zur Hand, werden wir auf spontane Weise achtsam in unseren Reaktionen, vor allem wenn wir eine Gelegenheit bekommen, uns über etwas zu freuen. Wenn ein plötzlicher Regenschauer nichts Unangenehmes mehr, sondern ein Überraschungsgeschenk ist, wirst du spontan zur Gelegenheit der Freude aufbrechen. Du wirst dich darüber so freuen, wie du es im Kindergarten tatest, selbst wenn du nicht länger versuchst, mit weit geöffneten Mund Regentropfen einzufangen. Nur wenn die Gelegenheit von dir mehr verlangt als ein spontanes Vergnügen, musst du dir einen kleinen Extrakick geben als Teil von Schritt drei.
Mir hilft es, mein eigenes Üben in Dankbarkeit zu überprüfen, indem ich für diese drei Grundschritte eine Regel anwende, die ich als Junge für das Überqueren einer Kreuzung lernte: „Anhalten – schauen – gehen.“
Bevor ich zu Bett gehe, blicke ich auf meinen Tag zurück und frage mich: „Habe ich innegehalten und mir erlaubt überrascht zu sein? Oder trottelte ich einfach weiter? War ich zu beschäftigt, um für die Überraschung aufzuwachen? Und – wenn ich einmal innehielt, habe ich nach der Gelegenheit dieses Augenblicks gesucht? Oder habe ich den Umständen erlaubt, mich vom Geschenk im Geschenk abzulenken? (Dies geschieht häufig, wenn die Verpackung des Geschenks nicht attraktiv ist!) Und schliesslich: war ich genügend achtsam, mich der gegebenen Gelegenheit zuzuwenden und sie voll zu nutzen?
Wenn ich abends innehalte, um auf meinen Tag zurückzublicken, scheint mir dies manchmal, ich muss es gestehen, wie der erste Halt in einem Schnellzug zu sein. Dann schaue ich zurück und stelle mit Bedauern fest, wie viel ich versäumte. An solchen Nonstop-Tagen war ich nicht nur weniger dankbar, ich war auch weniger lebendig, wie taub. Andere Tage waren vielleicht genauso geschäftig, aber ich erinnerte mich daran anzuhalten. An diesen Tagen habe ich sogar mehr erledigt, weil das Innehalten die Routine unterbricht. Aber das Innehalten allein macht meinen Tag noch nicht zu einem wirklich glücklichen; was für ein Unterschied macht es, dass ich nicht in einem Schnellzug sondern in einem Bummelzug bin, wenn ich mir der Landschaft jenseits des Fensters nicht bewusst bin? An manchen Tagen finde ich bei meinen abendlichen Rückblicken, dass ich zwar anhielt und schaute, aber nicht mit Achtsamkeit. Gerade gestern fand ich auf dem Weg einen riesigen Nachtfalter. Ich hielt zwar so lange an, um ihn nur wenig entfernt an einen sicheren Ort auf den Rasen zu legen; doch ich kauerte mich nicht zu ihm nieder, um etwas Zeit mit dieser wunderbaren Kreatur zu verbringen. Abends erinnerte ich mich nur schwach an diese schillernden Augen auf den graubraunen Flügeln. Mein Tag wurde wie vermindert durch dieses Versäumnis, lange genug bei diesem Überraschungsgeschenk stehen zu bleiben, um es genau zu betrachten und seine Schönheit dankbar zu kosten.
Mein Rezept für einen freudigen Tag ist einfach: anhalten und aufwachen – schauen und sich bewusst sein, was man schaut – dann weitergehen mit aller Achtsamkeit, die man für den gegebenen Augenblick aufbringen kann. Abends auf einen Tag zurückzublicken, an dem ich diese drei Schritte immer wieder machte, ist wie einen Obstgarten voller Früchte anzuschauen.
Das Rezept für dankbar leben tönt einfach – weil es einfach ist. Aber einfach heisst nicht leicht. Einige von den einfachsten Dingen sind schwierig, weil wir unsere kindliche Einfachheit verloren und unsere gereifte noch nicht gefunden haben. Wachsen in Dankbarkeit ist Wachsen im Reifen. Wachsen ist ein biologischer Prozess. Und damit kommen wir zurück auf das, was ich am Anfang sagte: dem organischen Fluss der Dankbarkeit ein mentales Gitter wie eine „Schrittfolge“ überzustülpen, wird willkürlich bleiben. Wenn ich dankbar bin, werde ich durch meinen Tag weder hetzen noch trödeln – ich tanze. Was im klassischen Tanz gilt, gilt auch hier: erst wenn du vergisst, an deine Schritte zu denken, tanzest du wahrhaft.
Dieses Essay von Br. David Steindl-Rast erschien erstmals im Sommer 2001 auf„Beliefnet.com“. © A Network for Grateful Living. Übersetzung von Eve Landis.
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