Wenn ich die vielen Kinder sehe, die an Hunger sterben, dann kann ich auch nicht dankbar sein. Aber dankbar sein kann ich dafür, dass ich das Leid sehe und etwas dagegen tun kann.

Kirchenbote: Die Kirche St. Peter ist eine der grössten Kirchen in der Stadt Zürich. Meinen Sie, dass der angekündigte Vortrag von Ihnen sie füllen wird?

David Steindl-Rast: Keine Ahnung! (lacht) Aber das ist mir auch nicht so wichtig. Wenn nur eine Person kommt, der das, was ich sagen möchte, zu Herzen geht, ist das schon genug.

Worüber werden Sie sprechen?

Voraussichtlich über das Thema, das für mich eines der zentralsten ist: Die Dankbarkeit.

Darüber haben Sie auch schon viel geschrieben…

Ja, für mich ist Dankbarkeit ein spiritueller Weg, der sowohl für den Einzelnen wie für die Welt zukunftsweisend ist. Wir sind heute eine ziemlich undankbare Gesellschaft. Wir wollen immer noch mehr besitzen, weil wir nicht dankbar sein können für das, was wir schon haben. Aber glücklicher sind wir so nicht geworden. Wenn man hingegen dankbar ist, wird man sofort auch glücklicher.

Das klingt für mich etwas gar einfach. Es gibt doch auch vieles, für das man nun wirklich nicht dankbar sein kann.

Ja, natürlich. Wenn ich die vielen Kinder sehe, die an Hunger sterben, dann kann ich auch nicht dankbar sein. Aber dankbar sein kann ich dafür, dass ich das Leid sehe und etwas dagegen tun kann. Und wenn das nicht geht, kann ich andere fragen, was man tun könnte. Stellen Sie sich vor, Zehntausende von Menschen würden aufstehen und fragen: „Was kann man tun?“ Das würde wahrscheinlich schon einiges verändern.

Was ist das Spirituelle an dieser Lebenshaltung?

Das hängt davon ab, was man unter „spirituell“ versteht. Ich übersetze „spirituell“ mit „lebendig“, denn „spiritus“, der Heilige Geist, ist der Lebensatem, die Wurzel alles Lebendigen. Und wenn man dankbar ist, führt einen das in die Begegnung mit dem Lebendigen. Dankbarkeit ist das Bewusstsein, dass das ganze Leben Geschenk ist.

Wie geht diese mystische Einstellung zusammen mit dem politischen Engament, zu dem Sie auch immer wieder aufrufen?

Dass Mystik und Politik sich widersprechen, ist ein Irrtum. Im Gegenteil, sie bedingen sich sogar. Und wenn manche Leute meinen, dass Glauben eine Absage ans Politische bedeute, unterstützen sie letztlich die bestehende Politik. Eine nur aufs Innere konzentrierten Religion ist gefährlich, weil sie – ungewollt – einen Pakt mit der Welt schliesst. Deshalb braucht es die Mystiker mit ihrer Radikalität. Sie sind so etwas wie die Hechte im Karpfenteich, welche die anderen ständig aufscheuchen.

Nun etwas anderes: Sie werden oft als „Pionier des interreligiösen Dialogs“ bezeichnet…

Na ja. Das hat sich halt so ergeben, obwohl ich es gar nicht gesucht habe. Ich war immer der Meinung, dass es in unserer eigenen christlichen Tradition genug zu tun gibt. Aber dann wurde ich von meinem Abt in ein buddhistisches Kloster geschickt.

Sie wurden geschickt? Wieso?

Es war eine Einladung jenes Klosters, und der Abt sah in mir offenbar die geeignete Person. Das Leben mit den buddhistischen Mönchen war für mich dann eine prägende Erfahrung. Ich entdeckte, wie viel Gemeinsames wir Mönche haben, trotz aller Unterschiede zwischen Benediktinern und Buddhisten.

Und was ist das Gemeinsame?

Die Bemühung um ein waches, aufmerksames Leben. Auch die Dankbarkeit ist für die Buddhisten zentral und das Bewusstsein, dass alles Geschenk ist.

Aber das Fragen nach Gott ist im Christentum doch ein völlig anderes als im Buddhismus.

Ja natürlich, Buddhisten kennen keinen persönlichen Gott. Deshalb brauche ich im interreligiösen Dialog für Gott den Ausdruck des „Mehr“, den ich von Dorothee Sölle übernommen habe. Das „Mehr“, dieses Wissen um eine Dimension, die uns übersteigt, teilen wir mit allen Religionen. Gerade die Buddhisten lassen sich besonders tief auf dieses „Mehr“ ein. Dies zu wissen und uns in diesem „Gott-Raum“ zu begegnen, ist eine Überlebensnotwendigkeit in der heutigen Zeit, in welcher der Fundamentalismus solch entsetzliche Folgen hat.

Sie grenzen sich gegenüber dem Buddhismus gar nicht ab?

Nein! (vehement) Wer abzugrenzen und auszugrenzen beginnt, ist aus der religiösen Dimension bereits herausgefallen.

Das müssen Sie mir näher erklären!

Wenn Religion bedeutet, uns mit Gott, mit dem grossen „Mehr“ einzulassen, und wenn Gott unbegrenzbar ist, dann bedeutet jedes Eingrenzen und Ausgrenzen einen Abfall von Gott. Weil das „Mehr“ eben immer „mehr“ ist als unser Begreifen.


“Kirchenbote fuer den Kanton Zuerich,” Nr. 16, August 2005